Meine ersten Bibliotheksaufnahmen enstanden im Jahr 2005. Damals arbeitete ich im Auftrag des Architekten Sir Norman Foster und dokumentierte den Neubau der Philologischen Bibliothek der Freien Universität Berlin. Erst viel später fand ich zu meiner Leidenschaft für Bibliotheksräume. 2007 verbrachte ich ein paar Tage in New York. Mehr zufällig betrat ich an einem regnerischen Vorfrühlingstag das imposante, im neoklassizistischen Stil gehaltene Gebäude der Public Library. Ich erinnere mich noch genau an den Moment, als ich den Rose Main Lesesaal betrat. Sofort umgab mich eine Atmosphäre von Konzentration und Stille. Die Größe des Raumes ähnelte einer Kathedrale, der aus Holz gefertigte Raumteiler, hinter dem eine Bibliothekarin still in Papieren blätterte, erinnerte mich an die Ikonostase orthodoxer Kirchen. Durch die über den Bücherregalen eingebauten großen Fenster schimmerte das graue Licht des New Yorker Regentages. Erhellt wurde der Saal von zwei Reihen riesiger Kronleuchter und von Leselampen mit goldenen Schirmen auf den Tischen, an denen Lesende in Bücher vertieft mein Kommen nicht bemerkten. Außer einem gelegentlichen Husten, den gedämpften Schritten von Bibliothekaren, die Bücher umhertrugen, war es still.
Ich fühlte mich in die Ekstase meiner frühen Lesezeit versetzt, als ich begriff, dass mein mühsames Entziffern von Buchstaben mich zu einer revolutionären Befreiung führte. Durch Lesen würde sich mir die Welt erschließen. Alles Wissen, alle Geschichten ständen mir direkt zur Verfügung, ohne kontrollierende Filter von vorlesenden Erwachsenen. Ja, mir wurde vorgelesen, aber sowohl die Auswahl der Bücher, als auch die Dauer des Vorlesens waren dem Willen der Vorleser unterworfen.
Das war in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Wir lebten in einer Kleinstadt in Bayern, ganz im Süden der Republik. Auf der anderen Straßenseite befand sich im Erdgeschoss eines hässlichen Gebäudes, das der Stadt gehörte und in dem sozial schwache Familien mit zahlreichen Kindern in beengten Wohnungen lebten, die Stadtbibliothek, die immer Dienstag nachmittags geöffnet hatte. Bald sah man mich als schüchternen 10jährigen an dem Tisch der streng blickenden Bibliothekarin vorbei in die Ecke mit den Kinderbüchern schleichen und mit großen Stapeln Büchern wieder nach Hause gehen. Mit der Beute verkroch ich mich in einen leeren Wandschrank auf dem Dachboden des geräumigen alten Hauses in dem wir lebten und ich las und las…
Erst im Jahr 2014 begann ich mich intensiv mit Bibliotheksräumen zu beschäftigen. Ich entdeckte die wunderbare Lausitzische Bibliothek der Wissenschaften in Görlitz, an Grenze zu Polen, die so unvergesslich nach altem Holz riecht, die phantastische Stadtbibliothek von Stuttgart als modernes Gegenstück, und dann die barocken Klosterbibliotheken Österreichs und Portugals, voller Prunk als Heiligtümer des Wissens um den Willen Gottes auf Erden, Herrschaftsinstrumente kirchlicher Macht.
Ich selber sammle keine Bücher mehr. Bücherregale sind gehören heute zu den dekorativen Elementen der Inneneinrichtung. Bilder von Bibliotheken erzählen uns von Zeiten, als Wissen in Büchern zu finden war, als Menschen Abende damit verbrachten sich gegenseitig vorzulesen und das Schicksal von Romanhelden das eigene kleine Schicksal vergessen ließ und als die Welt so einfach erschien, dass sie zwischen zwei Buchdeckeln Platz hatte.
Lisa Fehrenbach
Reinhard Görner